Hayo Hase und das einzige transportable, geodätische Observatorium der Welt
Im Gespräch mit unserer Kollegin Eva Schroth erzählt Hayo Hase von seinem persönlichen Weg und der Reise von AGGO.
AGGO: das Argentinisch-Deutsche Geodätische Observatorium
Das Argentinean German Geodetic Observatory (AGGO) wurde 2015 in La Plata, in der Nähe von Buenos Aires, in Betrieb genommen und feiert dieses Jahr sein 10-jähriges Jubiläum. Es ist das einzige transportable, geodätische Observatorium der Welt und hatte schon eine weite Reise hinter sich gebracht, bevor es in Argentinien eintraf. Unser Kollege Hayo Hase war von Anfang an bei der Entstehung und den verschiedenen Etappen, die das Observatorium zurückgelegt hat, dabei. Kollegin Eva Schroth vom Observatorium in Wettzell hat mit ihm gesprochen.
Hayo, kannst Du erstmal berichten, wie Du überhaupt zum Bundesamt für Kartographie und Geodäsie und zu dem Projekt, aus dem das AGGO entstand, gekommen bist?
Zum BKG hatte ich schon früher Kontakt gehabt und zwar durch die Station O’Higgins in der Antarktis. Ich wurde von der Uni Bonn ans BKG geschickt, um das O’Higgins-Radioteleskop in Betrieb zu nehmen. Das Radioteleskop wird gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt betrieben. Das DLR benutzt es zur Kommunikation mit Satelliten, wir für die Very Long Baseline Interferometry (VLBI). Das ist ein wichtiges Verfahren in der Geodäsie. Als ich am Überlegen war, ob ich das O’Higgins-Projekt mache, da hatte ich spekuliert: Wenn ich mit dem O’Higgins-Teleskop erfolgreich bin, dann weiß ich als einziger, wie das geht in der Antarktis. Dann müsste ich doch eine Stelle beim BKG kriegen können. Aber Pustekuchen: durch die Wiedervereinigung wurde das Institut für angewandte Geodäsie (IfAG), wie das BKG damals hieß, um den VEB Kombinat Geodäsie und Kartographie der DDR erweitert. Die Arbeitsbereiche von Ost und West wurden zusammengefügt und da ein Kollege aus Leipzig bereits Antarktis-Erfahrungen hatte, wurde er mit O’Higgins betraut und ich leider nicht eingestellt.
Hayo Hase
Also bist Du auf anderen Wegen zum BKG gekommen?
Am Geodätischen Observatorium Wettzell (GOW) begann zu der Zeit das Projekt MIGM (Mobile, integrierte, geodätische Messplattform). Das war im Grunde genommen das Konzept des GOW, aber als transportable fundamentale Station der Geodäsie, sodass man es dort betreiben kann, wo immer auf der Welt Messpunkte fehlen. In den 1980er Jahren gab es vom BKG viele Kampagnen der mobilen Laserentfernungsmessung zu Satelliten. Daher brauchte man eine mobile transportable Station, die man zum Beispiel in die Südhemisphäre bringen kann, wo es zu wenige Messpunkte gab – und eigentlich auch immer noch gibt.
Und das war deine Chance, einen Fuß ins BKG zu bekommen?
So gut wie. Von 1992 bis 1997 standen für dieses Projekt fünf Millionen D-Mark pro Jahr zur Verfügung. Das erzeugte einen mächtigen Handlungsdruck. Also musste Wolfgang Schlüter als GOW-Stationsleiter zusehen, dass er das Projekt voranbringt. Die ersten Konzepte erstellten die damaligen Mitarbeiter am GOW, aber es war offensichtlich, dass mehr Manpower nötig war, um dieses Projekt voranzubringen. Es hatte zwischenzeitlich einen neuen Namen bekommen: transportables, integriertes, geodätisches Observatorium, kurz TIGO. Die GOW-Mitarbeiter waren jedoch mit ihren täglichen Kernaufgaben beschäftigt und konnten dem Projekt nicht die volle Aufmerksamkeit geben, die für eine schnelle Umsetzung erforderlich war. Also war es an der Zeit, einen Projekt-Ingenieur für TIGO einzustellen. Und das war meine Chance, beim BKG einzusteigen. Meine Erfahrungen mit VLBI-Teleskopen, aber auch mit der Datenauswertung waren hier sicherlich ein Vorteil.
Und dann ging es mit TIGO richtig los?
Ja, obwohl wir nur zu zweit waren – aber Stellen für fünf Mitarbeiter geplant waren! Nach drei Jahren mit befristeten Verträgen und zwei Verlängerung kam dann das Zittern, ob es dann die unbefristete Anstellung gibt! Das fiel 1997 zusammen mit der Auflösung des IfAG und Umbenennung in BKG, wo Stellen abgebaut werden mussten. In der Zeit war es wirklich schwierig, neue Stellen zu bekommen, aber am Schluss haben alle eingesehen, dass die Leute, die jetzt fünf Jahre technische Erfahrung an den Geräten gesammelt haben, gebraucht werden, wenn das ein Erfolg werden soll. Denn die Kehrseite der Medaille war: Wäre das Projekt gescheitert, dann hätte man 25 Millionen D-Mark vom Innenministerium in den Sand gesetzt.
Also, hat es doch noch geklappt?
Immerhin! Ich hatte die Stelle ja auch angenommen, weil ich herumkommen wollte und ich wollte wieder weg aus Wettzell. Ich wollte ja mit TIGO raus gehen, ich wollte…
…in die Welt!
Genau! Wir hatten bisher viel Arbeit in das Projekt gesteckt. Da ist vieles mit großem Idealismus und Einsatz gelaufen. Anders wäre das nicht gegangen. Und glücklicherweise wurde das dann mit einer festen Stelle belohnt.
Eine gute Entscheidung vom BKG! Wie ist TIGO dann in die Welt gekommen?
Ende 1999 drehte sich alles um die Frage: Wo gehen wir hin? Da hatte ich das große Glück, dass ich Wolfgang Schlüter begleiten konnte. Wir hatten eine Ausschreibung laufen, welches Land und welche Institution Interesse hätte, mit uns zu kooperieren. Daraufhin meldeten sich Organisationen aus Brasilien, Argentinien, Chile, Indonesien, Philippinen und Indien. Meine Aufgabe war es dann, alle Städte und Leute kennen zu lernen. Wir waren auf dieser Reise 32 Tage unterwegs. Wir haben zwölf Orte besichtigt und mit zwölf verschiedenen Institutionen Kontakt gehabt.
Das hört sich sehr intensiv an!
Allerdings. Wir saßen jeden zweiten Tag im Flugzeug. Aber es war eine ganz tolle Erfahrung, weil wir die Möglichkeit zum Vergleichen hatten, wie das unterschiedliche Niveau bzw. das Verständnis von globaler Geodäsie in den einzelnen Ländern variierten. So gab es in Südamerika, also in Chile und Argentinien, die militärgeografischen Institute, die zwar auf Disziplin und Ordnung getrimmt waren und einiges vorweisen konnten, aber in puncto Modernität hinterherhinkten. Mehr in der Art: Haben wir immer schon so gemacht. Bei den Universitäten sah das anders aus. Die waren der modernen Technik gegenüber aufgeschlossen, aber oft fehlten einfach die Mittel, aktuelle Geräte zu kaufen. In der Theorie hatten sie eine gute Grundlage, aber es fehlte ihnen an Möglichkeit, ihr Wissen in der Praxis auszuprobieren.
Beeindruckend fand ich auch Indien. In Indien ist das Bildungswesen an die Kaste der Brahmanen gekoppelt. Das ist die höchste Kaste, weil diese mit Erleuchtung und Vergeistigung und so weiter gesegnet sind. Daher sind die Wissenschaftler alle Brahmanen. Und wenn man einerseits die Armut sieht, die einem dort auf den Straßen begegnet und dann quasi am laufenden Meter mit potenziellen Nobelpreisträgern zu tun hat, denen einfach nur die Hardware fehlt, um voranzukommen – das sind schon deutliche Kontraste. Aber wir brauchten ja mehr Messpunkte in der Süd-Hemisphäre, insofern waren dann die Angebote aus Indonesien, den Philippinen und Indien ein bisschen zu sehr nördliche Hemisphäre… und wir hatten ja gute Alternativen auf der Südhalbkugel.
In die nähere Auswahl kamen Cordoba in Argentinien mit ihrer Universität und Chile, wo wir dann tatsächlich TIGO beheimatet haben. Chile war der Standort, der sich am weitesten südlich befand. Das war nicht unerheblich, da wir uns an den Satelliten-Orbits orientierten, die wir zuvor in dem Bereich mit Laserentfernungsmessung gar nicht messen konnte, weil es keine Stationen gab. Durch den Standort Chile wurde das geodätische Netz verbessert. Die Entscheidung über den geeigneten Standort habe aber nicht ich getroffen, sondern die Wettzeller Stationsleitungssitzung. Ich habe nur die Unterlagen zusammengestellt, die Reiseauswertung gemacht, und wir haben ganz viele Parameter als Entscheidungsgrundlage angegeben.
Und warst du einverstanden mit der Entscheidung, die getroffen wurde?
Rückwirkend ja. Das hängt aber mit verschiedenen Ereignissen an den Alternativstandorten zusammen. Wir hatten in Argentinien die Wirtschaftskrise, wo die Bürger eine Geldentwertung von 60 Prozent erlebten und die Lage fast in einen Bürgerkrieg schwenkte. In Indonesien wäre es der Standort Yogyakarta gewesen und da ist in der Nähe ein Vulkan. Der ist seit meinem Besuch dort zweimal ausgebrochen - immer mit viel Ascheregen und Erdbeben. Auf den Philippinen gab es unter Präsident Duterte zwecks Kriminalitätsbekämpfung sehr viel Gewalt in den Straßen. In Indien loderten immer wieder Religionskonflikte auf und in Brasilien ist die Kluft zwischen arm und reich sehr extrem, was im Alltag immer zu schwierigen Situationen führt. Insofern war das gar nicht so schlecht in Concepcion.
Ursprünglich war ja geplant, dass TIGO jedes Jahr woanders hinzieht. Warum seid Ihr dann in Chile geblieben?
TIGO wurde ja Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre geplant. Da hat man Radioteleskope und Laserentfernungsmesssysteme gebraucht, um die geodätischen Stationsnetze zu verdichten. Ein transportables Observatorium war die Lösung, um mehrere Messpunkte abzudecken und ein dichteres Netz zu bekommen. Als TIGO dann aber an einem anderen Ort zu Einsatz kommen sollte, hatte sich die Geodäsie verändert. Die Satellitennavigation – das hieß damals vor allem GPS – hatte sich etabliert. Es war dann viel wichtiger, lange Zeitreihen von einem Punkt zu haben. Deswegen blieben wir in Chile.
Der weite Weg des TIGO von Concepción in Chile nach La Plata in Argentinien
Wie kam es dann, dass TIGO jetzt nicht mehr in Chile ist und als AGGO nach Argentinien kam?
Es gab eine Reihe von Faktoren, die hier eine Rolle spielten. 2010 gab es ein großes Erdbeben in der Region Concepcion, bei dem die Station beschädigt wurde. Wesentlich größere Schäden verzeichneten jedoch die Stadt und die Universität von Concepcion. In dieser Zeit waren die anderen Partner aus dem Konsortium ausgestiegen und in Chile hatten wir nicht mehr so viele Unterstützer. Politisch war die Situation für uns ungünstig, denn der damalige Präsident Pinera verfolgte eine Politik des neoliberalen Merkantilismus und so ein Observatorium bringt eben keinen Profit. Ich hatte auch den Eindruck, dass unsere Verwaltung damals recht unflexibel agierte und Spielräume, die es vielleicht ermöglicht hätten, mit den Chilenen eine gemeinsame Lösung zu finden, nicht genutzt hat.
2013 stand dann die Frage im Raum, wie es mit uns weitergeht. Von unserem Innenministerium hieß es: Ihr könnt weitermachen mit dem Observatorium, aber ihr müsst einen Partner finden.
Mit der Pistole auf der Brust schluckten wir dann das kleinere Übel. Die Kollegen aus Argentinien, die 1999 schon TIGO haben wollten, hatten Interesse. Im Oktober 2013 unterschrieb der damalige Präsident des BKG dann den Vertrag mit Conicet, dem größten und wichtigsten argentinischen Forschungsinstitut.
Also seid ihr 2015 umgezogen. Wie war das?
2014 haben wir unsere Sachen eingepackt und wollten eigentlich zum Jahreswechsel 2014/2015 über die Grenze, um nicht in den Winter zu kommen. Denn wir mussten mit dem Landtransport die Anden überqueren. In den Anden kann viel Schnee im Winter liegen und dann sind die Pässe gesperrt. Und hier sind wir in eine kritische Zeit gekommen, denn die Plattform in Argentinien war noch nicht fertig und die Baustelle machte nur sehr langsame Fortschritte. Leider zu langsam. Zumindest kam es mir damals wie ein Schneckentempo vor. Heute, mit meiner zehnjährigen Erfahrung vor Ort kann ich sagen, für argentinische Verhältnisse hat man damals mit Überschallgeschwindigkeit gearbeitet. Aber letzten Endes haben wir es rechtzeitig geschafft und konnten Ende April, kurz vor dem ersten Schnee, losfahren.
Wie waren die Anfänge von AGGO?
Die Anfangssituation in La Plata war sehr schwer. Als wir eintrafen, war die Baustelle nicht fertig. Auf der Plattform konnte man immerhin die Container abstellen. Ansonsten war keine Infrastruktur vorhanden. Es gab keine Toiletten, keine Stromleitung, kein Internet. Wir hatten einen Bürocontainer, den ich mir als Übergangsunterkunft hergerichtet hatte. Bis ich eine Wohnung gefunden habe, musste ich ja irgendwo bleiben. Darüber hinaus hatten wir noch keinen Zaun um das Gelände, geschweige denn einen Wachdienst. Den Job habe ich dann gleich mitübernommen. Zum Duschen oder um das Internet zu nutzen, musste ich woanders hinfahren. Das war wirklich keine leichte Zeit. Und dann hat sich die Wohnungssuche viel schwieriger gestaltet als gedacht. Nicht, dass es keine Wohnungen gegeben hätte, aber die Bedingungen, um als Europäer, und dazu neu in der Region, eine Wohnung zu mieten, konnte ich nicht erfüllen. Daher hat das viel länger gedauert als geplant.
Radioteleskop AGGO
Außerdem wollte ich endlich Daten produzieren. Der Standort in der Südhemisphäre ist enorm wichtig. Also steckte ich meine Energie in den Aufbau der Station.
Ich fing morgens um neun Uhr an, und außer mir war niemand vor Ort. Die anderen kamen erst um halb elf oder elf Uhr. Das hing mit den Arbeitsbedingungen der argentinischen Mitarbeiter zusammen. Die waren durchaus an AGGO interessiert und motiviert, konnten aber nur im Rahmen ihrer Möglichkeiten arbeiten. Das war uns im Vorfeld nicht klar. In den Vertragsverhandlungen hatten wir vereinbart, dass wir Vollzeitbeschäftigte brauchen und das wurde uns auch zugesagt. Bei Conicet bedeutet Vollzeitarbeit, dass die Mitarbeiter 25 Prozent der Arbeitszeit unterrichten. Dadurch bekamen sie ein höheres Gehalt. Hinzu kam eine Besonderheit zum Arbeitsweg: Wer außerhalb der Stadtgrenze einen Arbeitseinsatz hat – und wir befinden uns außerhalb der Stadt - für den zählt die Anfahrt schon als Arbeitszeit. Wenn die Kolleginnen und Kollegen von der Stadt La Plata, wo sie wohnen, eine Dreiviertelstunde zu uns rausfahren und abends wieder zurück, dann ist das für sie Arbeitszeit.
Das war bestimmt eine schwierige Situation. Wie ging es dann weiter in AGGO?
Eine große Erleichterung war, dass ich nach gut drei Monaten eine Wohnung gefunden hatte. Und mittlerweile kenne ich die Gegebenheiten im Land und kann mich besser damit arrangieren. Auch die argentinischen Mitarbeiter sind mittlerweile bestens eingearbeitet. Die kennen sich aus in ihrem Arbeitsbereich. Das Radioteleskop haben Michael Häfner und ich trotz der widrigen Umstände zu Beginn unserer Zeit in Argentinien relativ schnell wieder in Betrieb genommen. Das hat den Anfangsfrust gemindert.
Mittlerweile kann ich in vielerlei Hinsicht sehr zufrieden sein. Seit zwei Jahren gibt es neben Michael Häfner und mir mit Christian Kristukat noch einen weiteren Kollegen für VLBI. Er wurde vom BKG eingestellt und wir merken spürbar die zusätzliche Manpower.
Und wie geht es weiter mit AGGO?
Die Herausforderungen gehen uns nicht aus: Wir planen den Bau eines modernen Radioteleskops. Denn nach 25 Jahren sind die Anforderungen an die Genauigkeit enorm gestiegen. Das kann unser altes Teleskop nicht mehr erfüllen. Für ein neues Teleskop in AGGO habe ich mich von Anfang an eingesetzt und ich würde mich sehr freuen, wenn wir es bald in Angriff nehmen können.
Dann wünsche ich Dir und deinem Team in AGGO viel Erfolg bei der Umsetzung!
Service